Röbeler Chefärztin zu den Folgen der Pandemie für Kinder und Jugendliche

7. März 2021

Monatelange Einschränkungen, kaum soziale Kontakte und eine veränderte Lebensweise sind für fast jeden zum Alltag geworden. Seit fast einem Jahr versuchen Familien, sich an die neue Situation anzupassen. Immer wieder mit Hochs und Tiefs. Doch wie gehen die Jüngsten der Gesellschaft mit dieser neuen Situation um?
Dr. Sylke Ilg ist Chefärztin der Röbeler Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und –psychosomatik im MEDICLIN Müritz-Klinikum und berichtet über die Situation der psychisch kranken Kinder und Jugendlichen.

„Unsere Patienten erleben in der Pandemiezeit sehr unterschiedliche Entlastungen und Belastungen, je nachdem in welcher Entwicklungsphase sie gerade sind und welche psychischen Probleme sie schon vorher hatten. Die, deren Probleme sich eher außerhalb der Familie zeigten, dürfen – ja müssen sogar –  sich weitgehend in den Lebensbereich zurückziehen, in dem sie sich wohl fühlen.
Kleinere Kinder mit Trennungsängsten und Integrationsschwierigkeiten in Gruppen können zum Beispiel von der neugewonnenen Zeit mit ihren Eltern profitieren und erfahren weniger Ausgrenzung.
Jugendliche mit sozialen Ängsten und Selbstwertproblemen brauchen sich der Außenwelt nicht zu stellen und sind erstmal entspannter, haben vielleicht weniger Bauchschmerzen und fühlen sich entlastet – fast wie in den Ferien. Auch Kinder, die zum Beispiel an ADHS leiden und zur Notbetreuung in die Schule gehen, können profitieren. Durch die kleine Gruppenstärke im Lernverbund haben die Lehrer mehr Zeit für den Einzelnen, die Kinder lernen konzentrierter und stören weniger. Das ermöglicht ganz neue Schulerfahrungen.“

Also eigentlich alles gut für die Kinder?

„Nein, natürlich nicht. Die Lebenssituation im Lockdown birgt vor allem Risiken. Wichtige Lebens- und Lernfelder für Kinder und Jugendliche stehen nicht zur Verfügung. Kontakte mit Gleichaltrigen verlagern sich noch mehr in die sozialen Medien. Tagesstrukturen verschwimmen. Symptome chronifizieren. Die Kinder erleben die Sorgen der Eltern und deren Anspannung mit, entwickeln neue Ängste. Verlierer sind vor allem auch die Kinder, deren familiäre Strukturen schon vorher stark belastetet waren, wo Konflikte eskalieren und die Nerven aller blank liegen. Durch Kontaktverbote haben die Kinder meist keine Chance, dem Familienalltag zu entfliehen oder sich jemandem anzuvertrauen, wie zum Beispiel Lehrern oder Sozialarbeitern.“, sagt die Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie.

„Aber auch den Jugendlichen fällt die neue Situation sehr schwer. Alterstypische Entwicklungsaufgabe ist es, sich von zu Hause zu lösen, sich in der Peergroup auszuprobieren, die eigenen Stärken und Schwächen kennen zu lernen, Möglichkeiten für die Zukunft auszuloten. In der Klinik haben wir derzeit eine Häufung von 13-15 jährigen Mädchen mit depressiven Symptomen und Ängsten, Selbstunsicherheit und Identitätskonflikten, die ganz dringend die Gleichaltrigen brauchen, um sich weiter entwickeln zu können. Eine ambulante Therapiestunde reicht hier nicht, wenn die Jugendlichen die restliche Zeit der Woche zu Hause vereinsamen.“, berichtet Frau Dr. Ilg.

Die erfahrene Chefärztin sagt auch, dass sie es wichtig finde, dass die Schulen und Kitas alle wieder öffnen. Alle Kinder benötigen den regelmäßigen Kontakt zu Gleichaltrigen beim Spielen und Lernen. Viele Kinder können beim Onlineunterricht einfach abtauchen und sich zurückhalten oder bekommen nicht genug Unterstützung zu Hause. Dadurch werden gegebenenfalls Lernunterschiede immer größer.

Sind die älteren Jugendlichen, die selbstbestimmter auch außerhalb von festen Schulstrukturen ihre Kontakte pflegen können,  im Vorteil?

„ Diese Altersgruppe leidet mehr unter den unklaren Berufs- und Ausbildungsperspektiven. Praktika, Auslandsaufenthalte usw. fallen aus. Eine junge Erwachsene sagte mir, dass sie das Gefühl habe, seit einem Jahr still zu stehen. Eine andere kann einfach nicht in ihrer Lehre ankommen, vereinsamt in der ersten eigenen Wohnung in der neuen Stadt, bricht ab und zieht zurück zu den Eltern, fühlt sich als Versagerin..“

Was können Sie den Patienten trotzdem anbieten?

„Wir konnten fast alle unsere Therapieangebote durchgängig aufrechterhalten. Die Nachfrage für die ambulante Sprechstunde ist so hoch, dass es zu Wartezeiten kommen kann. Wir haben Kriseninterventionen vermehrt angeboten und Sprechstunden per Video abgehalten.

Die Motivation für tagesklinische Behandlungen ist hoch. Die Kinder und Jugendlichen, die in den Tageskliniken therapiert werden, genießen die tägliche strukturierte Zeit mit den anderen Patienten. Die Gruppentherapie ist fast der einzige reale soziale Kontakt zu Gleichaltrigen, der den Kindern bleibt.

Allerdings merken wir, dass ambulante Behandlungen bevorzugt werden, auch bei den Patienten, wo eine stationäre Aufnahme hilfreicher wäre. Die Schwelle zur stationären Aufnahme ist größer als sonst. Wir müssen überall das Ansteckungsrisiko so gering wie möglich halten, was den Klinikaufenthalt belastender macht. Die Kinder haben nicht mehr die Möglichkeit, so häufig Kontakt zur Familie zu halten, wie vor der Pandemie. Wenn die Inzidenzzahl hoch ist, darf nur ein Elternteil einmal in der Woche das Kind besuchen. Ist die Inzidenzzahl niedriger, dürfen beide Elternteile zu Besuch kommen. Jeder Besucher erhält einen Antigen-Schnelltest bevor er die Station betreten darf, Beurlaubungen sind nur in Ausnahmefällen noch möglich“, berichtet Frau Dr. Ilg.

Was passiert nach der Therapie? Können Sie den Patienten trotzdem helfen?

Für die Kinder und Jugendlichen ist es wichtig, dass sie ihr erlerntes Wissen im Alltag anwenden können, in sogenannten Belastungserprobungen. „Wir haben viele Kinder, die sich in der Klinik weiter entwickeln, Ängste abbauen, sich alternative Verhaltensstrategien erarbeiten.  Wegen der fehlenden Schulreintegrationsmöglichkeiten und der eingeschränkten Beurlaubungen  haben diese Kinder nicht die Möglichkeit, das Erarbeitete im normalen Alltag anzuwenden, und so kann es zu einem Symptomrückfall kommen. Das wirkliche Ausmaß der Folgen der Pandemiezeit für die Kinder und Jugendlichen werden wir wohl erst abschätzen können, wenn diese Zeit überstanden ist“, sagt Sylke Ilg.

Zum Schluss möchte Frau Dr. Sylke Ilg ein großes Dankeschön an alle Kinder und Jugendlichen und Mitarbeiter der Ambulanzen, der Klinik in Röbel und der Tagesklinik in Neubrandenburg ausrichten, denn diese sind mit der neuen Situation und den neuen Regelungen wirklich gut umgegangen. „Es ist sicher auch nicht immer einfach, an den zusätzlich notwendigen medizinischen Maßnahmen, wie z.B. dem Durchführen von Schnelltests oder PCR Testungen teilzunehmen – aber auch alle kleinen und großen Patienten der Klinik meistern das sehr tapfer. Auch den Eltern der Kinder und Jugendlichen gilt ein herzliches Dankeschön, denn ohne das Verständnis für die neuen Regelungen, wie zum Beispiel die Besuchsregelungen, hätten wir nicht so kontinuierlich weiter für unsere Patienten da sein können.“


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