Studie zu Minderjährigen mit Behinderungen in der DDR

19. September 2020

Über den Umgang mit Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in der DDR ist bisher wenig bekannt. Die soeben bei der Landesbeauftragten für MV für die SED-Diktatur erschienene Studie von Falk Bersch „Kinder und Jugendliche in sonderpädagogischen, psychiatrischen und Behinderteneinrichtungen in den DDR-Nordbezirken“ nimmt die historische Entwicklung der Unterbringung, Betreuung und Förderung der Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen in den Bezirken Neubrandenburg, Rostock und Schwerin in den Blick.

Untersucht werden dabei auch die sich wandelnden rechtlichen und gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen in der DDR. Ein zweiter Teil der auf zwei Bände angelegten Studie wird sich mit einzelnen Einrichtungen befassen.

Wichtig sind die Erkenntnisse der Studie auch für die 2017 bei der Landesbeauftragten eingerichtete Anlauf- und Beratungsstelle der Stiftung „Anerkennung und Hilfe“, an die sich bisher 1.275 Betroffene gewandt haben. Diese Betroffenen waren als Minderjährige in der DDR in Nervenkliniken und deren Außenstellen, in kirchlichen und staatlichen Behinderteneinrichtungen oder in Internaten von Hilfs- bzw. Sonderschulen untergebracht. Für heute noch fortwirkende Folgen ihrer Unterbringung können diese Menschen einen Ausgleich der Stiftung erhalten. Anmeldungen dafür sind bis Jahresende 2020 möglich.

Die Publikation von Falk Bersch in der Schriftenreihe der Landesbeauftragten wurde aus Mitteln des Strategiefonds des Landes Mecklenburg-Vorpommern gefördert.

Erschütternde Zustände

Anne Drescher, Landesbeauftragte: „Betroffene berichten über Schläge, Demütigungen, Essensentzug, Fixierung in Netzbetten. Bildung und Förderung sind ihnen versagt worden. Auf ein selbstbestimmtes Leben nach der Entlassung wurden sie nicht vorbereitet.
Der DDR wird von vielen Seiten nach wie vor ein vorbildliches Gesundheits- und Sozialwesen attestiert. Bei genauer Betrachtung bekommt dieser Mythos tiefe Risse. Gerade im Umgang mit Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen als schwächsten Gliedern der Gesellschaft zeigt sich in der DDR eine tiefe Diskrepanz zwischen den ideologischen Phrasen und den erschütternden Zuständen in den Einrichtungen. Durchgängig vom Anfang bis zum Ende der DDR sind gerade diese häufig von der bloßen Verwaltung des Mangels geprägt. Die unzureichende personelle und materielle Ausstattung ist eine wesentliche Ursache für strukturelle, physische und psychische Gewalt, der die Betroffenen ausgesetzt waren.“

Falk Bersch, Autor: „Der DDR-Rehabilitationspädagoge Klaus-Peter Becker versicherte 1984, es sei für Geschädigte in der DDR verbrieftes Recht, als ebenbürtige Staatsbürger vollständig am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Dem entgegengesetzt behauptete das Magazin STERN Mitte 1990 in einem Bericht, dass in der DDR keine Förderung für Behinderte existiere. Beide Aussagen sind falsch und machen deutlich, dass es eine pauschale Aussage über die Situation behinderter Kinder und Jugendlicher in der DDR nicht geben kann. Geprägt sind der größte Teil der Behinderteneinrichtungen aber bis zum Ende der DDR durch Großstationen, Überbelegung, mangelnde Tagesstrukturierung, bauliche Mängel, unzureichendes Personal sowie Überalterung, welche die von den Betroffenen berichteten Missstände begünstigten.“

Anlaufstelle für Betroffene

Stiftung „Anerkennung und Hilfe“
Im Januar 2017 wurde die Anlauf- und Beratungsstelle Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ bei der Landesbeauftragten für MV für die Stasi-Unterlagen eingerichtet, seit 2019 Landesbeauftragte für MV für die Aufarbeitung der SED-Diktatur. Die Stiftung unterstützt Menschen, die als Kinder und Jugendliche in der DDR zwischen 1949 und 1990 in stationären Einrichtungen der Psychiatrie oder Behindertenhilfe Leid und Unrecht erfahren haben und heute noch unter den Folgen leiden. Betroffene oder deren Angehörige oder Betreuer können sich bis zum Meldeschluss am 31.12.2020 an die Anlauf- und Beratungsstelle wenden.
Die Anlauf- und Beratungsstelle der Stiftung in MV ist zuständig für alle Betroffenen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt in Mecklenburg-Vorpommern. Insgesamt haben sich seit 2017 bei der Anlauf- und Beratungsstelle für MV 1.275 Betroffene gemeldet. Mit diesen Betroffenen sind 850 Gespräche geführt worden, davon 605 als aufsuchende Gespräche. 735 von diesen Betroffenen haben Leistungen in einer Gesamthöhe von 6,7 Millionen Euro erhalten. Die Stiftung wurde von Bund, Ländern und Kirchen für Betroffene in Ost und West mit insgesamt 288 Millionen Euro ausgestattet und endet zum 31.12.2021. Mecklenburg-Vorpommern beteiligt sich mit rund 5,9 Millionen Euro an der Finanzierung.

1989 gab es in der DDR 162.949 Kinder und Jugendliche im Schulbesuchsalter mit „geistigen Störungen“, mehr als die Hälfte von ihnen galt als geistig behindert.

Man kann davon ausgehen, dass sich ab den 1970er Jahren in den drei DDR-Nordbezirken im Schnitt 1.400 Kinder und Jugendliche in psychiatrischen Großkliniken bzw. deren Außenstationen, in staatlichen und konfessionellen psychiatrischen Pflegeheimen, aber auch in Feierabendheimen und in normalen Krankenhäusern befanden. Ein großer Teil davon galt als „förderungsunfähig“ bzw. als „Pflegefall“.

Falk Bersch: Kinder und Jugendliche in sonderpädagogischen, psychiatrischen und Behinderteneinrichtungen in den DDR-Nordbezirken. Teil 1: Die historische Entwicklung. ISBN 9783933255594. Schutzgebühr 6 Euro.

Online bestellt werden kann das Buch unter www.landesbeauftragter.de/publikationen/aktuelle-publikationen/
Das Buch ist auch erhältlich in der Geschäftsstelle der Landesbeauftragten
Tel.: 0385-734006, Fax: 0385-734007, Mail: post@lamv.mv-regierung.de.


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