Wenn das Ohr an die Wand genagelt wird…
Aua! Wer am Wochenende zufällig auf diese Zeremonie am Brauhaus Müritz in Waren zugekommen ist, dürfte zwischen dem Bedürfnis, die Polizei zu rufen oder dem Gefühl, helfen zu müssen, geschwankt haben: Ein junger Mann ist mit seinem Ohr an die Wand eines Schuppens genagelt worden. Ja, richtig, genagelt.
Doch keine Sorge, das war keine Körperverletzung, sondern gehörte zur traditionellen Verabschiedung von Jonas, der vom Brauhaus aus auf die Walz ging.
Das Brauhaus Müritz ist seit über drei Jahren Wanderherberge in Mecklenburg-Vorpommern, und Jonas ist der erste Zimmergeselle seit über zehn Jahren, der sich jetzt für drei Jahre auf Wanderschaft begeben hat. Rund 30 Wandergesellen waren am Wochenende bei der Verabschiedung im Brauhaus Müritz dabei.
Zu den vielen Ritualen, die es zu bestehen galt, zählte auch eines, das vielen Menschen sicher mehr weh tun würde als das angenagelte Ohr: Jonas musste nämlich sein Handy an die Wand nageln. Diese Dinger sind auf Wanderschaft nicht erlaubt, lediglich eine Karte – also ganz klassisch – dürfen die Burschen nutzen.
Doch zurück zum angenagelten Ohr: Bevor es los geht, bekommt der Geselle einen goldenen Ohrring, sozusagen ein Notgroschen, falls das Geld mal ganz ausgegangen sein sollte.
Wer noch kein Ohrloch hat, bekommt es bei der Verabschiedung. Wie Jonas. Das Ohr wird an die Wand genagelt, wenn es aufhört, zu bluten, wird der Nagel heraus gezogen, der Ohrring kommt ins Loch. Allerdings ist das nicht in ein paar Sekunden erledigt. Etwa zehn Minuten hing der junge Mann mit seinem Ohr am Schuppen. In der Zwischenzeit wurden zwei Zimmermannslieder gesungen.
Übrigens: Der Wandergeselle muss immer frei, also auch schuldenfrei bleiben. Ansonsten wird die Wanderschaft abgebrochen – nicht ehrbar. Er darf sich dann auch nicht als ehrbarer Wandergesell bezeichnen und muss seine Kluft an den Nagel hängen. Von dieser Tradition stammt auch der Spruch „… an den Nagel hängen“.
Wenn der letzte Groschen nicht reicht und auch der Ohrring nicht, wird er aus dem Ohr gerissen. Damit ist dieser Geselle als unehrenhaft das ganze Leben gekennzeichnet.
Auch das Brauhaus Müritz als Wander-Herberge für Mecklenburg-Vorpommern hat seine Aufgaben. Wenn ein Wanderer hier eintrifft, muss er sich beim Herbergsvater Ricardo Reschke melden. Und der informiere den regionalen Zimmermannsmeister der Zunft. Der Wanderer muss dann so lange unter dem Siegel, das im Gastraum hängt, sitzen, bis der Meister kommt.
Dieser lässt sich das Wanderbuch zeigen und schaut, ob er ehrhaft und schuldenfrei ist. Dann bestellen sie ein Bier und einen Korn, sowie ein verschlossenes Päckchen, das in der Herberge liegt und gehen damit in den Keller. Dort steht in einem verschlossenem Raum eine verschlossene große Truhe mit geheimen Utensilien. Sie schließen sich ein, dann folgt ein geheimes Ritual. Erst danach darf sich der Wanderer frei bewegen.