14 Jahre unschuldig im Gefängnis? Wie eine Frau aus der Müritz-Region zu ihrem Bruder hält und für ihn kämpft

5. März 2023

Zweifel an seiner Schuld gab es von Anfang an, dennoch ist Manfred Genditzki im Februar 2009 verhaftet und im Mai 2010 wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Fast 14 Jahre saß er im Gefängnis. Seither erschienen unzählige Berichte in deutschen, aber auch internationalen Medien über den Fall, die alle einen Tenor hatten: Es handelt sich um einen Justizirrtum, der heute 62-Jährige wurde für einen Mord verurteilt, den es nie gab. Mit der Verurteilung des einstigen Hausmeisters ist nicht nur sein Leben zerstört worden, sondern das seiner gesamten Familie. Dazu gehört Sybille Ockert aus Louisenfeld bei Grabowhöfe. Sie ist die Schwester von Manfred Genditzki, hat keine Sekunde an seiner Unschuld gezweifelt, aber zwischenzeitlich den Glauben an das deutsche Rechtssystem verloren. 14 Jahre voller Verzweiflung, Wut und Hoffnung.  Ruhig schlafen kann die 67-Jährige aber auch heute noch nicht, denn im April beginnt das Wiederaufnahmeverfahren, das die Anwältin ihres Bruders nach vielen Jahren Recherche und Kampf erreichen konnte.

An den Tag, als sie erfuhr, dass ihr Bruder „Manni“ verhaftet wurde, kann sich Sybille Ockert noch ganz genau erinnern. „Meine Schwester Jutta hat mich angerufen und gefragt, ob ich sitze. Sie erzählte mir, dass unser Bruder in U-Haft ist, ich mich aber nicht aufregen soll, dass sich alles schnell aufklären würde“, erzählt die Müritzerin und man merkt ihr an, wie schwer ihr das Reden über das Erlebte fällt. Doch aufgeklärt hat sich nichts. Manfred Genditzki verbrachte nach einem Indizienprozess fast 5000 Tage im Gefängnis. Und das wirft man ihm vor:

Der Mecklenburger, der in der Nähe von Altentreptow geboren wurde, arbeitete als Hausmeister in einer Wohnanlage in Rottach-Egern am Tegernsee. Dort kümmerte es sich auch um die alleinstehende Rentnerin Lieselotte Kortüm. Die Seniorin wurde am Abend des 28. Oktober 2008 tot in einer mit Wasser gefüllten Badewanne gefunden. Zunächst gingen die Ermittler davon aus, dass kein Fremdverschulden vorlag, doch eine Polizistin äußerte einige Tage später den Verdacht, dass es ein Mord gewesen sein könnte. Der zuständige Gerichtsmediziner, der zunächst von einem Unfall ausging, änderte seine Meinung und informierte über zwei Blutergüsse am Kopf der Frau. Zu diesem Zeitpunkt war die Leiche von Lieselotte Kortüm bereits eingeäschert. Nun stand ein Gewaltverbrechen im Raum, und auch einen Verdächtigten machten die Ermittler schnell aus – Manfred Genditzki. Man warf ihm Habgier vor, er soll Geld der Rentnerin unterschlagen haben.

Eine stotternde Richterin

Als die Anwälte des heute 62-Jährigen diesen Vorwurf entkräften konnten, präsentierte die Staatsanwaltschaft noch während des Prozesses eine neue Version: „Manni“ soll die alte Dame nach einen Streit niedergeschlagen und zur Vertuschung der Tat anschließend ertränkt haben. Das Landgericht München verurteilte ihn zu lebenslanger Haft wegen Mordes. „Ich dachte, ich bin in einem falschen Film. Die angeblichen Indizien waren so schwach. Wir konnten einfach nicht verstehen, wie man anhand dieser Beweise oder besser Nicht-Beweise einen Menschen wegen Mordes verurteilen konnte“, schildert Sybille Ockert. Im Januar schöpften sie und andere Angehörige dann wieder Hoffnung, als der Bundesgerichtshof das Urteil aus verfahrensrechtlichen Gründen aufhob und zurück ans Landgericht verwies. Der Bundesgerichtshof rügte unter anderem, dass die Staatsanwaltschaft ihre Anklage mit einer Unterschlagung begründete, sich, als sich das Motiv nicht aufrecht erhalten ließ, im Urteil dann aber auf eine Verdeckung einer vorausgegangenen Körperverletzung beriefen. Ein gravierender Rechtsfehler, wie der Bundesgerichtshof feststellte.

„Wir dachten, dass jetzt alles gut wird und unser Bruder bald aus dem Gefängnis kommt“, erinnert sich die Schwester aus Louisenfeld. Doch nichts wurde gut. Das Landgericht München verurteilte ihn auch im neuen Prozess im März 2012  zu lebenslanger Haft. „Ich war bei der Urteilsbegründung dabei, und konnte es nicht fassen. Ich weiß noch genau, wie die Richterin regelrecht gestottert hat, als sie das Urteil verlas. Die Begründung habe ich mir nicht mehr angehört, ich konnte einfach nicht im Gerichtssaal bleiben und ging hinaus. Dann bin ich regelrecht zusammengebrochen“, schildert Sybille Ockert. Ihren Bruder konnte sie im Anschluss nicht einmal in die Arme nehmen, er wurde direkt wieder ins Gefängnis gefahren.

Per Lautsprecher von Geburt der Tochter erfahren

Doch nicht nur für die Schwester aus der Müritz-Region ist erneut eine Welt zusammengebrochen. Auch für die Frau von Manfred Genditzki, seine Tochter aus erster Ehe und den kleinen, vierjährigen Sohn. „Er hat damals zu mir gesagt: Kannst Du meinen Papa bitte holen und lief immer mit dem Bild seines Papas herum. Das werde ich nie vergessen“, sagt Sybille Ockert. Kurz nach seiner Verhaftung ist Manfred Genditzki Vater einer Tochter geworden – davon erfahren hat er über eine Lautsprecheransage im Gefängnis. „Einfach unmenschlich“, meint seine Schwester, die all die Jahre Kontakt zu seinen Kindern hielt. Vor allem die große Tochter setzte sich engagiert für ihren Papa ein und versuchte, gemeinsam mit der Familie, eine erneute Revision durchzusetzen. Vergeblich. „Meine Schwester und ich haben sogar Kredite aufgenommen, um die Kosten der Verfahren aufzubringen“, erklärte Schwester Sybille.

Den Glauben die Unschuld ihres Bruders hat die Familie nie verloren. Wohl aber an das Rechtssystem in Deutschland. „Ich wollte mich damit nicht abfinden. Um hinter die Kulissen zu schauen und zu sehen, wie die Rechtssprechung funktioniert, bin ich Schöffin am Landgericht Neubrandenburg geworden. Die Richter dort haben mir mein Rechtsempfinden teilweise wiedergegeben“, so die 67-Jährige, die auch in der Gemeinde Grabowhöfe ehrenamtlich sehr aktiv ist. Große Unterstützung bekam sie all die Jahre unter anderem von Bürgermeister Enrico Malow, der mit ihr sogar in Richtung Landsberg aufbrach, damit Sybille ihren Bruder im Gefängnis besuchen konnte. „Ich war ein paar mal in der Haftanstalt. Angst hatte ich nicht, aber schon ein beklemmendes Gefühl. Wir konnten uns jeweils zwei Stunden mit Manni unterhalten. Ganz ungezwungen, denn wir hatten ja nichts zu verbergen. Danach war ich aber jedesmal fix und fertig“, berichtet Sybille Ockert. Auch aus Sorge um den Bruder. „Ich dachte, er tut sich was an.“
Mit den Jahren schwand zwar manchmal die Hoffnung, dass ihr jüngerer Bruder endlich wieder in Freiheit leben kann, aber Aufgeben war für sie und andere Angehörige nie eine Option.

Dann nahm sich eine neue, überaus engagierte Anwältin des Falls an: Regina Rick. Sie recherchierte, sprach mit Experten und Sachverständigen. Im Juni 2019 stellte sie einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens – in Deutschland sind die Hürden dafür sehr hoch, Anträge nur selten erfolgreich. Auch dieser Antrag wurde Ende 2020 abgelehnt. Regina Rick legte dagegen Beschwerde ein, im September 2021 wurde ihrer Beschwerde schließlich stattgegeben. Dennoch dauerte es noch viele weitere Monate, bis sich etwas tat. Als neuen Aspekt legte die Anwältin ein Gutachtes eines Stuttgarter Professors vor, der mit einer Computersimulation beweist, dass Liselotte Kortüm in die Badewanne gestürzt und die Blutergüsse durch das Stoßen am Wasserhand entstanden sind. Außerdem gibt es ein Gutachten zur Temperatur des Wassers in der Wanne, mit dem der Todeszeitpunkt weiter eingegrenzt wird. Und danach kommt Manfred Genditzki als Täter nicht in Betracht.

Neuer Prozess am Landgericht München

Im August vergangenen Jahres dann die Entscheidung über ein Wiederaufnahmeverfahren und die sofortige Entlassung von Manfred Genditzki ohne Auflagen. „Ich konnte es nicht glauben, war überglücklich und wollte Manni so schnell wie möglich sehen“, erzählt Sybille Ockert. Etwa einen Monat später war es dann so weit – Manfred Genditzki, der während seiner Gefängniszeit auch Opa geworden ist, fuhr mit Frau, Kindern und seiner anderen Schwester in Richtung Grabowhöfe. Es war ein sehr emotionales Wiedersehen, das aber auch geprägt war, von der Sorge, dass jetzt alles wieder von vorne los geht. Denn es wird ein drittes Gerichtsverfahren geben, das am 26. April beginnt. Wieder am Landgericht in München, wieder sind mehr als 20 Verhandlungstages angesetzt. „Ich werde natürlich so oft wie möglich dabei sein“, versichert Sybille Ockert und kann sich dabei wieder der Unterstützung von Bürgermeister Enrico Malow sicher sein. Auch er will mit zum Prozess. „Ich habe die ganze Sache all die Jahre begleitet, habe gesehen, wie Frau Ockert und ihre Angehörigen gelitten haben und mich intensiv mit dem Fall beschäftigt. Ich werde Frau Ockert weiterhin zur Seite stehe und hoffe, dass die Sache dieses Mal gut ausgeht“, sagt der ehrenamtliche Bürgermeister von Grabowhöfe.

Das hofft natürlich auch Sybille Ockert, die sich bei allen bedanken möchte, die sie und ihre Familie unterstützt und immer an die Unschuld ihres Bruder geglaubt haben. Erst nach der Haftentlassung ihres Bruders konnte die Frau aus Louisenfeld richtig realisieren, was die Verurteilung von Manfred Genditzki vor 14 Jahren für sie und ihre Familie bedeutet hat. „Wir haben erst jetzt erkannt, wie auch unser Leben dadurch zerstört wurde.“

Foto oben: Sybille Ockert und ihr Bruder Manfred Genditzki bei seinem ersten Besuch nach der Haftentlassung in Louisenfeld.

Foto im Text links: Manfred Genditzki mit seiner Tochter und dem Enkelsohn.

Zusammenfassungen und umfangreiche Auflistungen von Veröffentlichungen und Urteilen sind unter anderem hier zu finden:
https://manfred-genditzki.eu/
https://de.wikipedia.org/wiki/Manfred_Genditzki

Vor kurzem sendete die ARD eine sehr detailreiche Dokumentation zum Fall Genditzki. Sie ist in der ARD-Meditahek unter dem Titel „Tod in der Badewanne“ zu finden.


5 Antworten zu “14 Jahre unschuldig im Gefängnis? Wie eine Frau aus der Müritz-Region zu ihrem Bruder hält und für ihn kämpft”

  1. Jens Adolf Frese sagt:

    das ist kein rechtssystem indem man so etwas passieren kann. das hat nichts mit Rechtsprechung zu tun sondern mit Willkür. wo ist hier der Spruch im zweifelsfalle zugunsten des Angeklagten? können Richter staatsanwälte nach so einer Geschichte noch arbeiten? müssten sie nicht mit jedem Pfennig ihres Einkommens dafür haften was sie hier dieser Familie und diesen Menschen angetan haben. sprichwörtlich haben diese staatsanwälte die hier gearbeitet haben Blut an den Händen. ein unschuldigen Menschen ins Gefängnis zu stecken ist eines , aber dann den eigenen Fehler nicht anerkennen noch viel schlimmer. das hat nichts aber wirklich gar nichts mit Rechtsprechung zu tun. pfui Teufel diesen Richtern staatsanwälten und wer auch immer damit zu tun hatte. ich wünsche der Familie alles gute und ein gutes vergessen dieser furchtbaren Tragödie

  2. N.Tupeit sagt:

    Wer solche Schwester bzw. Geschwister hat kann sich sehr Glücklich schätzen.Meine Hochachtung vor Sybille Ockert. Das würden viele nicht mehr machen. Alles Gute für die Familie und ein gutes Ende. Viele Grüße aus Waren

  3. Beranek sagt:

    Ich habe die ganzen Jahre mit meiner Kollegin, Sybille Ockert, mitgefiebert, immer in der Hoffnung, dass das was ihrem Bruder Manni passierte, möglichst schnell zu Gunsten von ihm aufgeklärt wird und es nur ein Freispruch in Frage kommt. Aber nein. So gingen Jahre dahin. Die Rechtssprechung in Bayern im Fall von Herrn Genditzki , hinterließen bei mir nicht gerade gute Gedanken ( Fall schnell lösen, Ossi). Nein, es gab und gibt so viele Menschen in Bayern, die für die Wahrheit und Gerechtigkeit im Interesse von Herrn Genditzki kämpfen.
    Ich hoffe, dass die Gerechtigkeit siegt und so auch für Herrn Genditzki. Ich hoffe es für ihm und der Familie. Ich bin im Gedanken bei ihnen.

    Edeltraud Beranek, Neubrandenburg, den 05.03.

  4. Anita sagt:

    Wie wollen Sie das wieder gut machen die besten Jahre sind weg .Ich wünsche mir für diesen Mann einen Millionen Betrag damit er alles machen kann was er möchte.weil heute kostet alles Geld selbst die öffentliche Toilette in der Stadt

  5. Nachdenklicher sagt:

    Mein Gott, was ist bloß los in diesem Staat?